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Gedanken beobachten / Bewusstsein als Gehirnfunktion - was spricht dagegen?

Hallo Herr Pfrommer, mit großem Interesse habe ich Ihre Webseite durchgelesen. Mir „leuchten“ Ihre Aussagen intellektuell auch ein, aber ich kann sie in mir  faktisch noch nicht zulassen. Ich kann mir zwar vorstellen, dass ich die Gedanken betrachten kann wie ein Objekt – aber dann kreiere ich in mir nur eine zusätzliche Instanz, habe ich das Gefühl. Vielleicht können Sie mir hierbei helfen.


Pf: Herzlichen Dank für Ihr Interesse an meiner Webseite und Ihre Frage. Gerade beim Thema „Gedanken beobachten“ besteht die Gefahr eines Missverständnisses. Wir können über Gedanken reflektieren, wobei, wie Sie meiner Ansicht nach richtig anmerken, eine weitere gedankliche Instanz geschaffen wird, die sich ggf. wiederum selbst untersuchen lässt. Diese Art von Selbstreflexion ist nicht gemeint, wenn ich im Zusammenhang mit Bewusstsein von „Bezeugen“, „Wahrnehmen“ oder „Erfahren“ spreche. Wenn Sie die Finger schnipsen, dann wird das erzeugte Geräusch von irgendetwas gehört. Wenn Sie diesen Text lesen, dann wird das Bild des Textes von irgendetwas gesehen. Wenn Sie einen Schmerz empfinden (hoffentlich nicht), dann wird der Schmerz von irgendetwas gespürt usw. Dieses schlichte Erfahren der augenblicklich empfangenen Eindrücke ist keine Instanz, die wiederum hinterfragbar oder beobachtbar wäre. Oder anders ausgedrückt: Dasjenige was sieht (hört, spürt etc.) kann selbst nichts objekthaft Wahrnehmbares sein, sonst wäre es sich selbst als Objekt der Betrachtung im Weg. Objekte (Gegenstände, Gedanken, Empfindungen etc.) können selbst nichts wahrnehmen, sie können nur wahrgenommen werden! In der Wahrnehmungskette muss es daher am Ende etwas Nicht-Wahrnehmbares geben, sonst könnte keine Wahrnehmung stattfinden. Das Subjekt ist kein Objekt!

 

Sorry, das ist Ihnen vermutlich klar. Das Problem besteht wahrscheinlich eher darin, das intellektuelle Wissen in eine gelebte Erfahrung zu verwandeln. Da tun wir uns oft schwer. Das Paradoxe dabei ist, dass wir diese gelebte Erfahrung in jedem Augenblick genauso machen. Wenn wir in die Welt hinausblicken, dann sehen wir die Welt aus einer transparenten Offenheit heraus. Wenn wir ein Geräusch hören, dann erklingt das Geräusch aus einer offenen Stille. Wenn wir unsere Gedanken erfahren, dann schweben die Gedankenworte in einem vergleichbaren offenen und stillen Raum. Mir hilft auch immer folgende Feststellung: Alles was wir wahrnehmen (Gegenstände, Gedanken, Empfindungen etc.) ändert sich ständig. Ich stelle aber eindeutig fest, dass im Vorgang der Wahrnehmung etwas ist, das sich nicht ändert. Dieser ruhende Bezug ist notwendig, da man ja sonst keine Änderungen registrieren könnte. Indem ich das Bleibende im Veränderlichen registriere, erlebe ich mich als gegenwärtiges bewusstes Sein. Vielleicht helfen Ihnen diese Ansätze weiter.


Frage: In meinem Verstand regt sich die Frage, „wieso soll das Bewusstsein nicht mit dem Gehirn gleichzusetzen sein“? Das wäre sozusagen die naheliegendste Überlegung für mein Verstehen.


Pf: Dieses Problem (Bewusstsein als Gehirnfunktion ja/nein) ist ebenfalls sehr berechtigt und kann leider wie ich meine nicht endgültig geklärt werden. Wissenschaftlich lassen sich immer nur die Gegenstände bzw. Objekte (der phänomenale Aspekt) der Wahrnehmung untersuchen. Diese sagen aber nichts aus über die Natur dessen, was wahrnimmt (Bewusstsein bzw. der nicht-objekthafte Aspekt der Wahrnehmung, s.v.). Zum Vergleich: eine Fotografie sagt nicht unbedingt etwas aus über das Wesen des Fotografen, ein Gemälde erklärt nicht den Maler. So gesehen ist die Frage nach dem Ursprung des Bewusstseins grundsätzlich offen. Beides ist möglich. Aus Gewohnheit neigen wir dazu, Bewusstsein als Gehirnfunktion anzusehen. Das ist aber genauso wenig bewiesen wie das Gegenteil.

 

Ich neige dazu das Gegenteil für wahrscheinlicher zu halten. Folgende Überlegungen:

  • Wie soll etwas Objekthaftes etwas Nicht-Objekthaftes erschaffen können? (Analog: wie kann die geträumte Traumfigur in einem Traum einen Träumer erschaffen?)
  •  Bewusstein ist von Natur aus unbegrenzt (Grenzen gibt es nur im Objekthaften, etwas Nicht-Objekthaftes besitzt keine Grenzen). Wie aber kann etwas Unbegrenztes einem begrenzten Objekt bzw. einem Individuum zugeschrieben werden? (Analog: wie kann der unbegrenzte 3D-geometrische Raum alleine einem darin enthaltenen Objekt zugeschrieben werden?).
  • Die Idee, dass ein materielles Objekt seine eigene Wahrnehmung erschafft, stellt einen Zirkelschluss dar, der als „hard problem of consciousness“ bekannt ist und grundsätzlich nicht gelöst werden kann.
  •  Im Gehirn wurde bisher kein Bewusstseins-Zentrum gefunden. Ein solches Zentrum wäre aus Gründen seiner Regressivität auch völlig unlogisch.

Aber selbst wenn man auf einem materialistischen Standpunkt beharrt und Bewusstsein als neuronalen Vorgang im Gehirn deutet, muss man zugeben, dass alle Weltvorgänge über die Naturgesetze miteinander in Verbindung stehen und somit die materielle Welt ein ungetrenntes Ganzes darstellt, dem man kaum eigenständige Individuen zuschreiben kann. Dieses Weltganze ist bewusst, was ich in jedem Moment an mir selbst verifizieren kann. Der Unterschied zu einer Auffassung, die Materie lediglich als Vorstellung eines universellen Bewusstseins deutet, ist dann gar nicht mehr so groß…

 

 

Hoffentlich habe ich Sie mit diesen Ausführungen nicht zu sehr befrachtet! Ich empfinde es als eine sehr befreiende Erkenntnis, dass wir alle vermutlich dasselbe Bewusstsein haben. Und selbst wenn daran Zweifel bestehen, dann kann man diese Möglichkeit ja im Leben einfach mal austesten und sich so verhalten, als gäbe es nur ein Bewusstsein. Vielleicht beantwortet das Leben die Fragen und Zweifel dann von selbst.

 

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